In einer Gemeindeversammlung, die aufgrund der derzeitigen Corona-Situation rein digital stattfindet, informiert das Presbyterium der Ev. Kirchengemeinde Brügge am heutigen Mittwoch ab 19:30 Uhr seine Mitglieder über weitere Erkenntnisse, Entwicklungen und Folgen des schrecklichen Vorfalls der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in der Gemeinde.


Im Juli 2020 war bekannt geworden, dass ein ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Kirchengemeinde, und vormals im CVJM Lüdenscheid-West, seit Mitte der 80er Jahre fast 30 Jahre lang Jungen in einer Jugendgruppe sexuelle Gewalt angetan hat. Bis zum heutigen Tag haben sich knapp über 20 Männer gemeldet und Beschuldigungen gegen den ehrenamtlichen Mitarbeiter erhoben.


Nach der Begrüßung und einer Andacht durch den Gemeindepfarrer Simon Schupetta startet die Gemeindeversammlung mit dem Bericht von Alfred Hammer, Vorsitzender des Interventionsteams, zum Stand der Aufarbeitung. Das Interventionsteam – bestehend aus Mitgliedern der Ev. Kirchengemeinde Brügge, des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, der Ev. Kirche von Westfalen (EKvW) und dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe – arbeitet seit Juli 2020 in hoher Intensität an der aktiven Aufarbeitung und Aufklärung der Beschuldigungen. Diese Arbeit umfasst Gespräche mit Betroffenen, Schulungsangebote für die
Jugendlichen/Teamer der ehemaligen Jungenschaft und Erarbeitung von Eckpunkten für eine zukünftige Jugendarbeit der Kirchengemeinde.

Zudem arbeitet das Interventionsteam in der Beratung des Presbyteriums bezüglich der zukünftigen Gemeindearbeit und bringt sie auf den Weg. Besonderen Fokus bei der gesamten Aufarbeitung legt das Interventionsteam darauf Verantwortlichkeiten zu identifizieren und die Verantwortlichen zu benennen.


In dieser Arbeit hat das Interventionsteam eine klare Erkenntnis gewonnen: Es gab zwar nur einen Beschuldigten, der sich der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung schuldig gemacht hat. Es gab aber weitere Verantwortliche, die nach derzeitigen Erkenntnissen eine Pflichtverletzung begangen haben. Dies wurde durch das Interventionsteam identifiziert und benannt. Es wurden Indizien und Beweise zusammengestellt und an die beschlussfassenden Gremien weitergereicht. Das sind für die Kirchengemeinde Brügge das Presbyterium, den Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg der Kreissynodalvorstand und für die Evangelische Kirche von Westfalen das Landeskirchenamt. Die genannten Ebenen haben die vorgelegten Ergebnisse des Interventionsteams bewertet und zum Teil schon Beschlüsse gefasst mit Konsequenzen für Menschen, die einer Pflichtverletzung beschuldigt werden. So wurde auf der Ebene der Landeskirche Disziplinarverfahren gegen Pfarrer eröffnet. Es gibt ein hohes Maß an
Aufklärungsinteresse. Dieses muss abgewogen werden gegen die Rechte der Beschuldigten. Jedem Beschuldigten ist eine sorgfältige Prüfung geschuldet. Was genau ist der Vorwurf und lässt sich dieser beweisen? Das gilt auch für den Vorwurf, Verantwortliche in der Kirchengemeinde hätten von Taten gewusst und tatenlos geschwiegen. Auch dies muss nachgewiesen werden.


Die Opfer haben ein Recht auf Aufklärung, damit das Geschehene aufgearbeitet werden kann. Diese haben in ihren Berichten und mündlichen Äußerungen zu dem, was ihnen angetan worden ist, auch Namen von möglichen Mitwissenden genannt. Nun müssen hierzu Schuld, Versäumnisse bzw. Pflichtverletzungen festgestellt werden. Das tun in diesem Fall kirchliche Gerichte, denn für die staatlichen Behörden gilt mit dem Suizid des Beschuldigten, dass es keinen Täter mehr gibt. Damit sind Ermittlungen und Aufklärung von staatlicher Seite beendet worden.


Die Kirche aber will weiter Aufklärung, Aufarbeitung und alles Mögliche tun, damit die Beschuldigten Gerechtigkeit erfahren. Klar ist, dass eine Wiedergutmachung – im wahrsten Sinne des Wortes – der schrecklichen Vorkommnisse unmöglich ist! Aber es gibt das gute Recht, die sexuelle Gewalt, die Menschen erfahren haben, aufzuklären und aufzuarbeiten. Wann diese Arbeit beendet sein wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Unabhängig von allen Aktion- und Zeitplänen steht den Betroffenen aber die Möglichkeit unbefristet offen, sich bei Frau Fricke, Landeskirchliche Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung, zu melden.


Gemeindepfarrer Simon Schupetta schließt mit seinem Bericht aus Sicht des Presbyteriums und der Gemeinde an. Er weiß, dass die Gemeinde sehr viele Fragen bewegt: Habe ich die Augen zu gemacht? Gibt es auch weitere Täter? Betrifft dies auch andere Gruppen? Wie konnte so etwas in der Mitte unserer Gemeinde entstehen? Er berichtet weiter von großer Betroffenheit, Trauer,
Entsetzen und Wut in der Gemeinde über die schrecklichen Vorkommnisse.

Ein großer Teil der Arbeit des Presbyteriums seit August letzten Jahres richtete – und richtet sich weiterhin – auf den Umgang mit den Betroffenen. Betroffene sind in erster Linie die Menschen, die unter den schrecklichen Taten des Beschuldigten litten und teilweise immer noch leiden. Es macht fassungslos und betroffen, dass Menschen in die Gemeinde kamen und hier eigentlich
einen geschützten Raum erleben sollten. Doch sie erlebten Schlimmes und genau das Gegenteil.
Die Schilderungen der Ereignisse durch Betroffene hat die Ausmaße der schrecklichen Vorkommnisse immer weiter deutlich gemacht. Dies hat die Gemeindeleitung unter anderem dazu bewogen im Februar an alle Betroffene einen persönlichen, nicht öffentlichen Brief zu schreiben. Auch wenn es nach heutigem Kenntnisstand, und auch nach den abgeschlossenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, nur einen Täter gab, hat die Gemeinde auch Versagen und Schuld zu verantworten. Hierfür hat die Gemeindeleitung die Betroffenen in dem Brief aufrichtig um Verzeihung gebeten.


Basierend auf diesem Brief und dem generellen Gesprächsangebot der Gemeindeleitung an die Betroffenen, gab es weiteren Mailverkehr sowie ein Gespräch mit mehreren Betroffenen. Es ist vereinbart weiter im Gespräch zu bleiben, weitere Treffen stehen noch aus.


Die Vorkommisse haben das Presbyterium seit Juli 2020 sehr stark gefordert und werden es weiterhin tun. Schreckliche Taten, die fast drei Jahrzehnte angehalten haben, können nicht in ein paar Wochen aufgeklärt sein. Es gab den Missbrauch durch eine Person in einer Jugendgruppe in der Gemeinde. Man weiß heute aber auch: Es gab ein System, das Missbrauch nicht verhindert und so lange möglich gemacht hat. Hier muss das Presbyterium und die gesamte Gemeinde weiter gründlich hinschauen, um die Ursachen zu finden und daraus die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Gemeindepfarrer Schupetta schließt seinen Bericht mit dem Appell an die Gemeindemitglieder: „Die Vorfälle der Vergangenheit sind Verantwortung für die Zukunft! Lasst uns alles dafür tun, auch wenn es schmerzhaft ist, genau hinzuschauen und nicht aus falschverstandener Nächstenliebe oder Angst wegschauen, damit sich Menschen in unserer Gemeinde wieder sicherfühlen können. Ich habe hier eine konkrete Bitte. Gehen Sie in sich und fragen Sie sich: Wo habe ich die Augen zu gemacht und wo kann ich beitragen, dass mehr Licht ins Dunkel kommt. Denn je mehr Licht in das Dunkel kommt, desto mehr verliert die Dunkelheit ihre Macht. Zum Wohle der Betroffenen und für die Zukunft unserer Gemeinde.“


Eberhard Reich, stellvertretender Vorsitzender des Presbyteriums, berichtet weiter aus der Sicht der Gemeindeleitung. Nach dem Bekanntwerden des Vorfalls war das Presbyterium extrem geschockt. Viele Fragen folgten, auf die versucht wurde Antworten zu finden. Einige davon bleiben bis heute ungeklärt. Klar geworden ist, dass das Leben dieses Menschen und Täters seine Seite hatte, die der Gemeinde verborgen geblieben ist. Der Beschuldigte hat das Umfeld der Gemeinde ausgenutzt, um in einer Jugendgruppe seine sexuellen Handlungen auszuführen und über Körper und Seelen der Jungen missbräuchlich Macht auszuüben. Damit hat er den Jugendlichen erhebliche und zum Teil bleibende Schäden zugefügt. In den Presbyteriumssitzungen, wo die Gemeindeleitung Einzelheiten zu den wiederholten Missbrauchssituationen erfuhren, waren Mitglieder den Tränen nahe und äußerst erschrocken.
Dieser systematische Missbrauch hat das Presbyterium erheblich verändert.

Die Gemeindeleitung wird bei der Aufarbeitung ganz genau hinschauen und allen Anzeichen konsequent nachgehen. Die Aufgabe des Presbyteriums, aber auch der gesamten Gemeinde, besteht darin, ein Bewusstsein und die notwendige Sensibilität zu fördern, damit Missbrauch nicht mehr möglich ist. Dazu werden auch Veränderungen in der Gemeinde nötig sein.


Für das Presbyterium ist klar, dass man auf der Seite der Betroffenen steht und dafür Sorge tragen will, dass sich Kinder und Jugendliche in der Gemeinde sicher fühlen und sicher sind. Dieser Prozess der Bewältigung war und ist für alle Beteiligten eine große Belastung und Herausforderung. Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist auch deshalb nicht einfach, weil die
Persönlichkeitsrechte der Opfer und Betroffenen, aber auch die der Mitwissenden gewahrt werden müssen.


Neben der weiteren Aufklärung des gesamten Vorfalls und den daraus folgenden Konsequenzen, ist es für die Gemeindeleitung in Zukunft weiterhin ein sehr wichtiges Anliegen, mit den Betroffenen in persönliche Gespräche zu gehen bzw. diese weiterzuführen. Zudem wird mit Hochdruck an einem neuen Konzept für die Jugendarbeit in der Gemeinde gearbeitet. Die Gemeindeleitung ist hier in unterschiedlichen Beratungsgesprächen und will das Gesamtkonzept zeitnah umsetzen. Erste Maßnahmen, wie zum Beispiel eine gemeinsame Schulung mit dem CVJM Brügge, an der sämtliche Mitarbeiter der Kinder- und Jugendarbeit der Gemeinde teilgenommen haben, wurden bereits durchgeführt. Weitere Schulungen als Vorbereitung des Gesamtkonzeptes, stehen mit dem Märkischen Kinderschutz-Zentrum im Mai an. Parallel zu diesen Vorgängen wurde in der Landessynode ein „Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ beschlossen, das am 01.03.2021 in Kraft getreten ist. Darin ist die Schaffung bzw. Erweiterung von Beratungs- und Schulungsmöglichkeiten vor Ort vorgesehen, die für die weitere Entwicklung und Aktualisierung von Präventionskonzepten der Gemeinde hilfreich sein werden.


Am Ende der Gemeindeversammlung bietet Ansgar Röhrbein, Leiter des Märkischen Kinderschutz-Zentrums in Lüdenscheid, den Gemeindemitgliedern an, sich bei weiterem Gesprächsbedarf und seelsorgerischer Begleitung direkt melden zu können. Dafür bietet das Märkische Kinderschutz-Zentrum, was seit dem Bekanntwerden des Vorfalls der Gemeinde bereits zur Seite steht, persönliche Gesprächsangebote. Die Gemeindeversammlung schließt Pfarrer Simon Schupetta dann mit einem Segen für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.


©EKKLP Evangelischer Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg

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