Sonntag, 16. Februar 2025

Top 5 der Woche

Ähnlich

„Die Vor­fäl­le der Ver­gan­gen­heit sind Ver­ant­wor­tung für die Zukunft!“

In einer Gemein­de­ver­samm­lung, die auf­grund der der­zei­ti­gen Coro­na-Situa­ti­on rein digi­tal statt­fin­det, infor­miert das Pres­by­te­ri­um der Ev. Kir­chen­ge­mein­de Brüg­ge am heu­ti­gen Mitt­woch ab 19:30 Uhr sei­ne Mit­glie­der über wei­te­re Erkennt­nis­se, Ent­wick­lun­gen und Fol­gen des schreck­li­chen Vor­falls der Ver­let­zung der sexu­el­len Selbst­be­stim­mung in der Gemein­de.


Im Juli 2020 war bekannt gewor­den, dass ein ehren­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter in der Kir­chen­ge­mein­de, und vor­mals im CVJM Lüden­scheid-West, seit Mit­te der 80er Jah­re fast 30 Jah­re lang Jun­gen in einer Jugend­grup­pe sexu­el­le Gewalt ange­tan hat. Bis zum heu­ti­gen Tag haben sich knapp über 20 Män­ner gemel­det und Beschul­di­gun­gen gegen den ehren­amt­li­chen Mit­ar­bei­ter erho­ben.


Nach der Begrü­ßung und einer Andacht durch den Gemein­de­pfar­rer Simon Schu­pet­ta star­tet die Gemein­de­ver­samm­lung mit dem Bericht von Alfred Ham­mer, Vor­sit­zen­der des Inter­ven­ti­ons­teams, zum Stand der Auf­ar­bei­tung. Das Inter­ven­ti­ons­team – bestehend aus Mit­glie­dern der Ev. Kir­chen­ge­mein­de Brüg­ge, des Ev. Kir­chen­krei­ses Lüden­scheid-Plet­ten­berg, der Ev. Kir­che von West­fa­len (EKvW) und dem Dia­ko­ni­schen Werk Rhein­land-West­fa­len-Lip­pe – arbei­tet seit Juli 2020 in hoher Inten­si­tät an der akti­ven Auf­ar­bei­tung und Auf­klä­rung der Beschul­di­gun­gen. Die­se Arbeit umfasst Gesprä­che mit Betrof­fe­nen, Schu­lungs­an­ge­bo­te für die
Jugendlichen/Teamer der ehe­ma­li­gen Jun­gen­schaft und Erar­bei­tung von Eck­punk­ten für eine zukünf­ti­ge Jugend­ar­beit der Kir­chen­ge­mein­de.

Zudem arbei­tet das Inter­ven­ti­ons­team in der Bera­tung des Pres­by­te­ri­ums bezüg­lich der zukünf­ti­gen Gemein­de­ar­beit und bringt sie auf den Weg. Beson­de­ren Fokus bei der gesam­ten Auf­ar­bei­tung legt das Inter­ven­ti­ons­team dar­auf Ver­ant­wort­lich­kei­ten zu iden­ti­fi­zie­ren und die Ver­ant­wort­li­chen zu benen­nen.


In die­ser Arbeit hat das Inter­ven­ti­ons­team eine kla­re Erkennt­nis gewon­nen: Es gab zwar nur einen Beschul­dig­ten, der sich der Ver­let­zung der sexu­el­len Selbst­be­stim­mung schul­dig gemacht hat. Es gab aber wei­te­re Ver­ant­wort­li­che, die nach der­zei­ti­gen Erkennt­nis­sen eine Pflicht­ver­let­zung began­gen haben. Dies wur­de durch das Inter­ven­ti­ons­team iden­ti­fi­ziert und benannt. Es wur­den Indi­zi­en und Bewei­se zusam­men­ge­stellt und an die beschluss­fas­sen­den Gre­mi­en wei­ter­ge­reicht. Das sind für die Kir­chen­ge­mein­de Brüg­ge das Pres­by­te­ri­um, den Kir­chen­kreis Lüden­scheid-Plet­ten­berg der Kreis­syn­odal­vor­stand und für die Evan­ge­li­sche Kir­che von West­fa­len das Lan­des­kir­chen­amt. Die genann­ten Ebe­nen haben die vor­ge­leg­ten Ergeb­nis­se des Inter­ven­ti­ons­teams bewer­tet und zum Teil schon Beschlüs­se gefasst mit Kon­se­quen­zen für Men­schen, die einer Pflicht­ver­let­zung beschul­digt wer­den. So wur­de auf der Ebe­ne der Lan­des­kir­che Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren gegen Pfar­rer eröff­net. Es gibt ein hohes Maß an
Auf­klä­rungs­in­ter­es­se. Die­ses muss abge­wo­gen wer­den gegen die Rech­te der Beschul­dig­ten. Jedem Beschul­dig­ten ist eine sorg­fäl­ti­ge Prü­fung geschul­det. Was genau ist der Vor­wurf und lässt sich die­ser bewei­sen? Das gilt auch für den Vor­wurf, Ver­ant­wort­li­che in der Kir­chen­ge­mein­de hät­ten von Taten gewusst und taten­los geschwie­gen. Auch dies muss nach­ge­wie­sen wer­den.


Die Opfer haben ein Recht auf Auf­klä­rung, damit das Gesche­he­ne auf­ge­ar­bei­tet wer­den kann. Die­se haben in ihren Berich­ten und münd­li­chen Äuße­run­gen zu dem, was ihnen ange­tan wor­den ist, auch Namen von mög­li­chen Mit­wis­sen­den genannt. Nun müs­sen hier­zu Schuld, Ver­säum­nis­se bzw. Pflicht­ver­let­zun­gen fest­ge­stellt wer­den. Das tun in die­sem Fall kirch­li­che Gerich­te, denn für die staat­li­chen Behör­den gilt mit dem Sui­zid des Beschul­dig­ten, dass es kei­nen Täter mehr gibt. Damit sind Ermitt­lun­gen und Auf­klä­rung von staat­li­cher Sei­te been­det wor­den.


Die Kir­che aber will wei­ter Auf­klä­rung, Auf­ar­bei­tung und alles Mög­li­che tun, damit die Beschul­dig­ten Gerech­tig­keit erfah­ren. Klar ist, dass eine Wie­der­gut­ma­chung – im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes – der schreck­li­chen Vor­komm­nis­se unmög­lich ist! Aber es gibt das gute Recht, die sexu­el­le Gewalt, die Men­schen erfah­ren haben, auf­zu­klä­ren und auf­zu­ar­bei­ten. Wann die­se Arbeit been­det sein wird, ist der­zeit noch nicht abseh­bar. Unab­hän­gig von allen Akti­on- und Zeit­plä­nen steht den Betrof­fe­nen aber die Mög­lich­keit unbe­fris­tet offen, sich bei Frau Fri­cke, Lan­des­kirch­li­che Beauf­trag­te für den Umgang mit Ver­let­zun­gen der sexu­el­len Selbst­be­stim­mung, zu mel­den.


Gemein­de­pfar­rer Simon Schu­pet­ta schließt mit sei­nem Bericht aus Sicht des Pres­by­te­ri­ums und der Gemein­de an. Er weiß, dass die Gemein­de sehr vie­le Fra­gen bewegt: Habe ich die Augen zu gemacht? Gibt es auch wei­te­re Täter? Betrifft dies auch ande­re Grup­pen? Wie konn­te so etwas in der Mit­te unse­rer Gemein­de ent­ste­hen? Er berich­tet wei­ter von gro­ßer Betrof­fen­heit, Trau­er,
Ent­set­zen und Wut in der Gemein­de über die schreck­li­chen Vor­komm­nis­se.

Ein gro­ßer Teil der Arbeit des Pres­by­te­ri­ums seit August letz­ten Jah­res rich­te­te – und rich­tet sich wei­ter­hin – auf den Umgang mit den Betrof­fe­nen. Betrof­fe­ne sind in ers­ter Linie die Men­schen, die unter den schreck­li­chen Taten des Beschul­dig­ten lit­ten und teil­wei­se immer noch lei­den. Es macht fas­sungs­los und betrof­fen, dass Men­schen in die Gemein­de kamen und hier eigent­lich
einen geschütz­ten Raum erle­ben soll­ten. Doch sie erleb­ten Schlim­mes und genau das Gegen­teil.
Die Schil­de­run­gen der Ereig­nis­se durch Betrof­fe­ne hat die Aus­ma­ße der schreck­li­chen Vor­komm­nis­se immer wei­ter deut­lich gemacht. Dies hat die Gemein­de­lei­tung unter ande­rem dazu bewo­gen im Febru­ar an alle Betrof­fe­ne einen per­sön­li­chen, nicht öffent­li­chen Brief zu schrei­ben. Auch wenn es nach heu­ti­gem Kennt­nis­stand, und auch nach den abge­schlos­se­nen Ermitt­lun­gen der Staats­an­walt­schaft, nur einen Täter gab, hat die Gemein­de auch Ver­sa­gen und Schuld zu ver­ant­wor­ten. Hier­für hat die Gemein­de­lei­tung die Betrof­fe­nen in dem Brief auf­rich­tig um Ver­zei­hung gebe­ten.


Basie­rend auf die­sem Brief und dem gene­rel­len Gesprächs­an­ge­bot der Gemein­de­lei­tung an die Betrof­fe­nen, gab es wei­te­ren Mail­ver­kehr sowie ein Gespräch mit meh­re­ren Betrof­fe­nen. Es ist ver­ein­bart wei­ter im Gespräch zu blei­ben, wei­te­re Tref­fen ste­hen noch aus.


Die Vor­kom­mis­se haben das Pres­by­te­ri­um seit Juli 2020 sehr stark gefor­dert und wer­den es wei­ter­hin tun. Schreck­li­che Taten, die fast drei Jahr­zehn­te ange­hal­ten haben, kön­nen nicht in ein paar Wochen auf­ge­klärt sein. Es gab den Miss­brauch durch eine Per­son in einer Jugend­grup­pe in der Gemein­de. Man weiß heu­te aber auch: Es gab ein Sys­tem, das Miss­brauch nicht ver­hin­dert und so lan­ge mög­lich gemacht hat. Hier muss das Pres­by­te­ri­um und die gesam­te Gemein­de wei­ter gründ­lich hin­schau­en, um die Ursa­chen zu fin­den und dar­aus die rich­ti­gen Leh­ren für die Zukunft zu zie­hen. Gemein­de­pfar­rer Schu­pet­ta schließt sei­nen Bericht mit dem Appell an die Gemein­de­mit­glie­der: „Die Vor­fäl­le der Ver­gan­gen­heit sind Ver­ant­wor­tung für die Zukunft! Lasst uns alles dafür tun, auch wenn es schmerz­haft ist, genau hin­zu­schau­en und nicht aus falsch­ver­stan­de­ner Nächs­ten­lie­be oder Angst weg­schau­en, damit sich Men­schen in unse­rer Gemein­de wie­der sicher­füh­len kön­nen. Ich habe hier eine kon­kre­te Bit­te. Gehen Sie in sich und fra­gen Sie sich: Wo habe ich die Augen zu gemacht und wo kann ich bei­tra­gen, dass mehr Licht ins Dun­kel kommt. Denn je mehr Licht in das Dun­kel kommt, des­to mehr ver­liert die Dun­kel­heit ihre Macht. Zum Woh­le der Betrof­fe­nen und für die Zukunft unse­rer Gemein­de.“


Eber­hard Reich, stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der des Pres­by­te­ri­ums, berich­tet wei­ter aus der Sicht der Gemein­de­lei­tung. Nach dem Bekannt­wer­den des Vor­falls war das Pres­by­te­ri­um extrem geschockt. Vie­le Fra­gen folg­ten, auf die ver­sucht wur­de Ant­wor­ten zu fin­den. Eini­ge davon blei­ben bis heu­te unge­klärt. Klar gewor­den ist, dass das Leben die­ses Men­schen und Täters sei­ne Sei­te hat­te, die der Gemein­de ver­bor­gen geblie­ben ist. Der Beschul­dig­te hat das Umfeld der Gemein­de aus­ge­nutzt, um in einer Jugend­grup­pe sei­ne sexu­el­len Hand­lun­gen aus­zu­füh­ren und über Kör­per und See­len der Jun­gen miss­bräuch­lich Macht aus­zu­üben. Damit hat er den Jugend­li­chen erheb­li­che und zum Teil blei­ben­de Schä­den zuge­fügt. In den Pres­by­te­ri­ums­sit­zun­gen, wo die Gemein­de­lei­tung Ein­zel­hei­ten zu den wie­der­hol­ten Miss­brauchs­si­tua­tio­nen erfuh­ren, waren Mit­glie­der den Trä­nen nahe und äußerst erschro­cken.
Die­ser sys­te­ma­ti­sche Miss­brauch hat das Pres­by­te­ri­um erheb­lich ver­än­dert.

Die Gemein­de­lei­tung wird bei der Auf­ar­bei­tung ganz genau hin­schau­en und allen Anzei­chen kon­se­quent nach­ge­hen. Die Auf­ga­be des Pres­by­te­ri­ums, aber auch der gesam­ten Gemein­de, besteht dar­in, ein Bewusst­sein und die not­wen­di­ge Sen­si­bi­li­tät zu för­dern, damit Miss­brauch nicht mehr mög­lich ist. Dazu wer­den auch Ver­än­de­run­gen in der Gemein­de nötig sein.


Für das Pres­by­te­ri­um ist klar, dass man auf der Sei­te der Betrof­fe­nen steht und dafür Sor­ge tra­gen will, dass sich Kin­der und Jugend­li­che in der Gemein­de sicher füh­len und sicher sind. Die­ser Pro­zess der Bewäl­ti­gung war und ist für alle Betei­lig­ten eine gro­ße Belas­tung und Her­aus­for­de­rung. Die Auf­ar­bei­tung des Miss­brauchs ist auch des­halb nicht ein­fach, weil die
Per­sön­lich­keits­rech­te der Opfer und Betrof­fe­nen, aber auch die der Mit­wis­sen­den gewahrt wer­den müs­sen.


Neben der wei­te­ren Auf­klä­rung des gesam­ten Vor­falls und den dar­aus fol­gen­den Kon­se­quen­zen, ist es für die Gemein­de­lei­tung in Zukunft wei­ter­hin ein sehr wich­ti­ges Anlie­gen, mit den Betrof­fe­nen in per­sön­li­che Gesprä­che zu gehen bzw. die­se wei­ter­zu­füh­ren. Zudem wird mit Hoch­druck an einem neu­en Kon­zept für die Jugend­ar­beit in der Gemein­de gear­bei­tet. Die Gemein­de­lei­tung ist hier in unter­schied­li­chen Bera­tungs­ge­sprä­chen und will das Gesamt­kon­zept zeit­nah umset­zen. Ers­te Maß­nah­men, wie zum Bei­spiel eine gemein­sa­me Schu­lung mit dem CVJM Brüg­ge, an der sämt­li­che Mit­ar­bei­ter der Kin­der- und Jugend­ar­beit der Gemein­de teil­ge­nom­men haben, wur­den bereits durch­ge­führt. Wei­te­re Schu­lun­gen als Vor­be­rei­tung des Gesamt­kon­zep­tes, ste­hen mit dem Mär­ki­schen Kin­der­schutz-Zen­trum im Mai an. Par­al­lel zu die­sen Vor­gän­gen wur­de in der Lan­des­syn­ode ein „Kir­chen­ge­setz zum Schutz vor sexua­li­sier­ter Gewalt“ beschlos­sen, das am 01.03.2021 in Kraft getre­ten ist. Dar­in ist die Schaf­fung bzw. Erwei­te­rung von Bera­tungs- und Schu­lungs­mög­lich­kei­ten vor Ort vor­ge­se­hen, die für die wei­te­re Ent­wick­lung und Aktua­li­sie­rung von Prä­ven­ti­ons­kon­zep­ten der Gemein­de hilf­reich sein wer­den.


Am Ende der Gemein­de­ver­samm­lung bie­tet Ans­gar Röhr­bein, Lei­ter des Mär­ki­schen Kin­der­schutz-Zen­trums in Lüden­scheid, den Gemein­de­mit­glie­dern an, sich bei wei­te­rem Gesprächs­be­darf und seel­sor­ge­ri­scher Beglei­tung direkt mel­den zu kön­nen. Dafür bie­tet das Mär­ki­sche Kin­der­schutz-Zen­trum, was seit dem Bekannt­wer­den des Vor­falls der Gemein­de bereits zur Sei­te steht, per­sön­li­che Gesprächs­an­ge­bo­te. Die Gemein­de­ver­samm­lung schließt Pfar­rer Simon Schu­pet­ta dann mit einem Segen für alle Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer.


©EKKLP Evan­ge­li­scher Kir­chen­kreis Lüden­scheid-Plet­ten­berg

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Beiträge