Donnerstag, 21. November 2024

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„Die Werkstatt war mein Rettungsanker“

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„Die Werkstatt hilft Menschen wie mir und macht Arbeit möglich.“ Semih Atac ist froh, dort Unterstützung und soziale Teilhabe zu erfahren (Foto: Janine Clemens, Caritasverband Olpe)

Es ist der 27. April 2018, der das Leben von Semih Atac aus Meggen für immer verändert. Der schwere Verkehrsunfall, bei dem sich sein Auto neunmal überschlägt hinterlässt Spuren – nicht nur sichtbare. Eine zwölfmonatige Reha und zahlreiche Therapien, dank derer sich der junge Mann ins Leben zurück kämpft, folgen. Vor dem Schicksalstag beabsichtigte der damals 22-jährige, seinen Realschulabschluss nachzuholen. Mit dem Ziel, „irgendwas im Bereich Elektronik“ zu machen. Heute drückt Semih Atac entschlossen den Griff der Kniehebelpresse herunter und konfektioniert fast täglich Kabel für die weitere Verarbeitung in der Abteilung Olpe der Werthmann-Werkstätten. Fünfeinhalb Jahre nach dem Unfall, ist Semih Atac dankbar für sein „zweites, geschenktes Leben“, das ihn mit der Unterstützung seiner Familie zu den Werthmann-Werkstätten des Caritasverbandes Olpe führte. Dort hat Semih Atac seit 2019 sein berufliches Zuhause in der Elektromontage gefunden: „Hier wird Arbeit möglich gemacht. Für jeden. Die Werkstatt interessiert sich für Menschen – sie hilft Menschen wie mir!“

Anlässlich des Internationalen Tags für Menschen mit Behinderung“ am 3. Dezember schildert Semih Atac seine Situation.

Aufgrund seines schweren Schädel-Hirn-Traumas lag Semih Atac damals mehrere Wochen im Koma. Alles musste neu erlernt werden. Eine künstliche Schädelplatte, mehrere Implantatschrauben in der Hüfte sowie Gedächtnislücken begleiten ihn bis heute. Doch er blickt zuversichtlich in die Zukunft: „Ich weiß alles jetzt vielmehr zu schätzen und blicke dankbar auf das, was ich erreicht habe und noch erreichen werde“, so der Beschäftigte der Werthmann-Werkstätten voller Optimismus. Noch sei er im geschützten Rahmen beruflich unterwegs. Erklärtes Ziel für den Mann aus Meggen ist jedoch ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis außerhalb der Werkstatt.

In engem Austausch mit Gruppenleiter Bernd Niklas werden derzeit entsprechende Möglichkeiten für Semih Atac ausgelotet. „Getreu dem Motto ‚Arbeit möglich machen‘ wird bei unseren Werkstatt-Beschäftigten nicht nach den Defiziten, sondern immer nach den Fähigkeiten und Kompetenzen jedes Einzelnen geschaut, der Mensch in den Blick genommen“, bekräftigt auch Achim Scheckel, Abteilungsleiter der Werthmann-Werkstätten in Olpe. „Herrn Atac zeigt uns, dass wir alle von heute auf morgen auf diese und ähnliche Unterstützungen angewiesen sein können“, ergänzt Scheckel.

Menschennah – „Arbeit möglich machen.“

Werkstatt als Chance

„Die Werkstatt ist keine Endstation. Der Weg kann in enger Begleitung durch uns über einen externen Arbeitsplatz in einem Kooperationsbetrieb hin zu einem sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnis führen“, erläutert Scheckel die Möglichkeiten innerhalb des Werkstatt-Systems. Als Chance versteht auch Semih Atac seinen nun eingeschlagenen Weg. Nach dem Eingangsverfahren in der beruflichen Bildung der Werkstätten hat Semih 2019 mehrere Praktika in der Industriemontage und als Lagerist absolviert, um sich schließlich für sein „Steckenpferd“, die Elektromontage, zu entscheiden. Wenn der 27-jährige die manuelle Presse bedient und PE-Kabel und Rohlinge für diverse Bauteilsysteme namhafter Industriekunden schneidet und formt, leuchten seine Augen. Dann ist er in seinem Element. „Die Werkstatt hat mich nicht nur aufgefangen, sie ermöglicht mir auch Weiterentwicklung und Förderung“, berichtet der zielstrebige junge Mann.

Er ist einer von rund 70 Beschäftigten, die am Standort Olpe in der Günsestrasse tätig sind. „Im Bereich der Elektromontage sind wir sogar nur zu 14 Personen. Da geht es sehr familiär zu. Das mag ich“, freut sich Atac, der ebenso wie zahlreiche Kolleginnen und Kollegen auch die Persönlichkeitsförderung durch die begleitenden Angebote der Werkstätten zu schätzen weiß. Wechselnde Kursprogramme ermöglichen es den Beschäftigten, gemeinsame Aktivitäten zu unternehmen. Das Schwimmen hat es Semih Atac besonders angetan.

Werkstattbetrieb schafft soziale Teilhabe, Tagesstruktur und

Entwicklungsmöglichkeiten

Wie wichtig und wertvoll die Einrichtung ist, weiß Semih Atac erst seit seinem eigenen Unfall. „Vorher kannte ich die Betriebe nicht.“ Ihm sei nicht klar gewesen, welche vielfältigen Möglichkeiten Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in allen Abteilungen der Werthmann-Werkstätten kreisweit erhalten. „Zum Glück hat mich meine Familie immer supportet und mir den Weg zur beruflichen Bildung dort aufgezeigt.“

Die Frage, wie sein Alltag aussehe, wenn er nicht in der Werkstatt beschäftigt wäre, kann Semih Atac ohne Zögern beantworten: „Dann hätte ich keine Tagesstruktur, kein Sozialleben, wenig Selbstbewusstsein und würde meinen Eltern, bei denen ich noch wohne, vermutlich sehr auf die Nerven gehen“, gibt der junge Mann augenzwinkernd zu. „Die sinnvolle Tätigkeit und der Ortswechsel tun mir einfach gut. Ich bin motiviert und stolz, wieder arbeiten zu können und soziale Teilhabe zu erfahren.“ Eine gute Fügung nach seinem erlittenen schweren Schicksalsschlag: „Die Werkstätten sind mein Chancengeber!“ 

Infobox:

Mit Blick auf den Einzelnen Arbeit möglich machen:

  • Die Werth­mann-Werk­stät­ten bie­ten seit über 50 Jah­ren Teil­ha­be am Ar­beits­le­ben für Men­schen mit psy­chi­schen und/oder geis­ti­gen Ein­schrän­kun­gen – un­ab­hän­gig ihrer Her­kunft. In der Be­ruf­li­chen Bil­dung „b.?punkt“ wer­den die er­for­der­li­chen Fer­tig­kei­ten ver­mit­telt – prak­tisch und theo­re­tisch.
  • Im Ar­beits­be­reich un­ter­stüt­zen die Ca­ri­tas-Werk­stät­ten bei der ­täg­li­chen Ar­beit in der Mon­ta­ge, im Elek­tro-, Holz- oder Me­tall­be­reich, in der Gar­ten­ar­beit, im Le­bens­mit­tel­la­den oder in der Haus­wirt­schaft – ob per Handarbeit oder unterstützt von modernen Maschinen. Dies ist in den Werk­stät­ten oder au­ßer­halb in einem Be­trieb mög­lich. Ziel ist immer: „Ar­beit mög­lich ma­chen“.
  • An den Stand­or­ten in At­ten­d­orn, Len­nestadt, Olpe und Wel­schen En­nest er­fah­ren täg­lich 670 Men­schen mit Be­hin­de­run­gen Teil­ha­be am Ar­beits­le­ben. Davon sind 47 Men­schen in den hie­si­gen In­dus­trie­un­ter­neh­men sowie bei Dienst­leis­tern tätig und wer­den re­gel­mä­ßig von den Werk­stät­ten be­treut.

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