Samstag, 28. Juni 2025

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Simon Tump, leitender Psychologe der GFO Kliniken Südwestfalen, spricht über Vorurteile und Missverständnisse in Bezug auf psychische Erkrankungen und deren Behandlung

Laut Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde erfüllen mehr als 25 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland jährlich die Kriterien, nach denen sie als „psychisch krank“ gelten würden. Die häufigsten Krankheitsbilder sind Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch. Im Interview klärt Simon Tump, Leitender Psychologe der GFO Kliniken Südwestfalen, über Missverständnisse in Bezug auf psychische Erkrankungen auf. Darüber hinaus geht er auf Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen oder Psychotherapeuten ein.

Was sind die häufigsten Missverständnisse über psychische Erkrankungen, die Sie in Ihrer Arbeit erleben?
Ein sehr häufiges Missverständnis ist die Annahme, dass psychische Erkrankungen einfach zu verstehen und zu behandeln seien. Viele Menschen glauben, es gäbe eine klare Erklärung für ihre Entstehung und eine bestimmte Lösung oder Behandlung, die sie „verschwinden“ lässt. Doch so einfach ist es nicht.
Oft höre ich Vergleiche wie: „Der hat eine Erschöpfungsdepression, aber sein Nachbar nicht – obwohl dieser zwei Kinder mehr hat, einen stressigeren Job und ein größeres Haus. Müsste der nicht viel erschöpfter sein?“ Aber psychische Erkrankungen lassen sich nicht so direkt vergleichen. Diese Vorstellung führt auch zu der falschen Erwartung, dass es in der Psychotherapie einen bestimmten Punkt gibt, den man nur finden und bearbeiten muss, damit alles wieder gut wird. Oder dass es ein Medikament gibt, das die Erkrankung einfach verschwinden lässt.
Für die Betroffenen ist es leider nicht so einfach. Die Schwere, Ausprägung und Entstehung psychischer Erkrankungen sind äußerst vielfältig – und genauso individuell muss auch die Behandlung sein. Nur in den seltensten Fällen gibt es einen einzelnen Auslöser, dessen Bearbeitung alle Probleme löst.

Wie erklären Sie jemandem, der sich nie mit dem Thema beschäftigt hat, was psychische Erkrankungen wirklich sind?
Das hängt davon ab, wie viel Zeit die Person hat. Ich betone dabei immer, wie vielfältig das Thema ist und dass es schwer ist, psychische Erkrankungen in wenigen Worten zu erklären.
In der Psychotherapie betrachten wir häufig vier Ebenen: Denken, Fühlen, den Körper und das Verhalten. In der Regel sind alle vier betroffen. Das bedeutet, dass sich das Verhalten verändert, dass der Körper anders reagiert und dass vor allem das Denken und das emotionale Erleben beeinträchtigt sind. Die Symptome können sich jedoch stark unterscheiden. Eine Depression mit Antriebslosigkeit sieht ganz anders aus als eine Psychose mit starker Angst und einer veränderten Wahrnehmung der Realität. Manche Betroffene haben eine Flut an belastenden Gedanken, intensive Gefühle und körperliche Unruhe, während andere emotional wie betäubt sind und sich kaum noch zu etwas aufraffen können. Ob also im Kopf und im Körper viel mehr passiert oder viel weniger und in welche Richtung sich die Symptomatik ausprägt, ist sehr unterschiedlich.
Ein grundlegendes Modell, das in der Erklärung häufig hilft, ist das biopsychosoziale Modell. Es besagt, dass psychische Erkrankungen durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren entstehen – welche Belastungen gerade im Hier und Jetzt bestehen, was in der Lebensgeschichte passiert ist, welche körperlichen Faktoren eine Rolle spielen und so weiter. Diese Faktoren greifen ineinander und machen es unmöglich, psychische Erkrankungen auf eine einzige Ursache zu reduzieren. Deshalb frage ich oft zurück: „Was genau interessiert Sie an dem Thema?“ So kann ich gezielt auf Fragen eingehen.

Wie hat sich die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Insgesamt hat sich die Stigmatisierung in meinen Augen eher verringert. Psychische Erkrankungen werden heute besser erkannt, und es gibt mehr Diagnosen – nicht unbedingt, weil es mehr Betroffene gibt, sondern weil früher viele Fälle übersehen wurden. Früher gingen Menschen mit körperlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen, Magenschmerzen oder Kopfschmerzen zum Hausarzt, ohne dass ihre eigentliche Depression erkannt wurde. Heute wissen wir mehr darüber, verstehen Erkrankungen besser und behandeln sie effektiver. Das führt auch dazu, dass die Suizidraten bei psychischen Erkrankungen seit Jahren deutlich rückläufig sind – nicht trotz, sondern wahrscheinlich sogar wegen steigender Diagnosezahlen.
Meine Erfahrung zeigt, dass viele Patient:innen immer noch mit der Angst vor Stigmatisierung in die Klinik kommen. Doch wenn sie sich dann einem Familienmitglied oder einer vertrauten Person anvertrauen, machen sie oft positive Erfahrungen – ganz anders als befürchtet. Das zeigt, dass sich unsere Gesellschaft in diesem Bereich stellenweise doch positiv entwickelt.
Eine problematische Entwicklung sehe ich allerdings in der medialen Berichterstattung. In den letzten Monaten wurde der Begriff „psychisch kranker Gewalttäter“ auffallend häufig verwendet. Dadurch entsteht der Eindruck, dass psychische Erkrankungen mit Gewalt oder Gefahr verbunden sind. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall: Die meisten psychisch Erkrankten sind nicht gefährlich, sondern gefährdet. Hier sehe ich die Gefahr, dass alte Vorurteile wieder verstärkt werden.

Welche Rolle spielt Sprache in der Stigmatisierung? Gibt es Begriffe, die wir überdenken sollten?
Sprache spielt eine große Rolle. Gleichzeitig finde ich es schwierig, Sprachverbote auszusprechen, wenn wir mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen erreichen wollen.
Ich bevorzuge Formulierungen wie „Menschen mit psychischer Erkrankung“ oder „psychisch erkrankte Menschen“ anstelle von „psychisch Kranke“. Letzteres reduziert Betroffene auf ihre Erkrankung, während die andere Formulierung betont, dass es sich um Menschen handelt, die an etwas leiden – nicht um eine feste Eigenschaft. Auch in der Therapie achte ich darauf. Viele sagen: „Ich bin depressiv“ oder „Ich bin ein Depressiver“ – das klingt, als wäre die Erkrankung eine feste Identität. Stattdessen ist es hilfreicher zu sagen: „Ich habe eine Depression“ oder „Ich leide an einer depressiven Episode“.
Natürlich sollten wir nicht zum „Sprachpolizei“-Modus übergehen. Aber es kann helfen, sensibler mit Begriffen umzugehen und zu überlegen, wie wir über psychische Erkrankungen sprechen.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Behandlung psychischer Erkrankungen?
Die begrenzten Ressourcen sind wohl die größte Herausforderung. Es gibt viele großartige Therapieansätze, für die wir jedoch nicht genug Zeit haben, um uns in alle einzuarbeiten und sie zu adaptieren. Es gibt viele qualifizierte und engagierte Fachleute, die sehr gute Therapieformen anbieten könnten, aber die Ressourcen fehlen.

Manche Menschen haben Vorurteile gegenüber Psychotherapie: „Man redet nur, das bringt doch nichts.“ Wie begegnen Sie solchen Aussagen?
Ich höre solche Aussagen nicht besonders häufig, aber wenn ich doch einmal auf ein solches Gespräch stoße, kommt es ganz darauf an, mit wem ich spreche. In manchen Fällen kann ich auf wissenschaftliche Studien hinweisen, die belegen, dass Psychotherapie tatsächlich wirkt. Oft erkläre ich, dass es eine fundierte, langjährige Ausbildung braucht, um diese Prozesse zu verstehen, was man nicht in ein paar Minuten erklären kann. Manchmal helfen auch Alltagsbeispiele, um zu verdeutlichen, wie das gesprochene Wort mit inneren Prozessen und Verhaltensweisen zusammenhängt. Ein Klassiker ist die Vorstellung vom kräftigen Biss in eine saftige Zitrone – kaum ausgesprochen reagiert unser Körper schon darauf. Ähnliche Zusammenhänge zwischen Sprache, Denken, Emotion und Körper kommen in der Therapie auch zum Tragen. Aber es geht nicht nur ums Reden. In der Therapie geht es auch darum, Veränderungen im Alltag zu besprechen. Die wirkliche Veränderung geschieht oft zwischen den Sitzungen – zum Beispiel wenn jemand aufgrund eines Gesprächs doch mal joggen geht, einen alten Freund anruft oder einen wiederholten Konflikt in der Partnerschaft einmal anders angeht. Auch das stellt einen positiven Unterschied dar. Es geht nicht nur um das, was während der Stunde gesprochen wird, sondern um die Impulse, die in den Alltag hinübergreifen.

Gibt es eine häufige Fehleinschätzung darüber, was Psychotherapeuten tatsächlich tun?
Ja, viele Menschen kommen mit der Vorstellung, dass sie sich auf eine Couch legen, aus dem Fenster schauen und der Therapeut einfach nur in der Ecke sitzt und nickt. Am Ende wird dann vielleicht noch die Mutter verantwortlich gemacht. Natürlich gibt es immer noch klassische Psychoanalysen, die mit einigen dieser Elemente arbeiten und sehr hilfreich sein können. Aber die überwiegende Mehrheit der heutigen Therapeuten arbeitet anders. Man sitzt sich gegenüber, schaut sich an, auf Augenhöhe, und der Therapeut ist aktiv in das Gespräch eingebunden. Oft hören wir nach ein oder zwei Gesprächen, dass die Patient:innen überrascht sind, wie „normal“ wir sind. Viele erwarten eher einen stets neutralen, unsichtbaren Therapeuten, der alles analysiert und keine Emotion zeigt. Doch nach wenigen Sitzungen wissen die meisten Patient:innen recht genau, was sie von uns erwarten können und wie wir arbeiten.

Gibt es neue und unkonventionelle Therapieansätze, die Sie spannend finden?
Ja, es gibt viele spannende neue Ansätze. Leider fehlt oft die Zeit, sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Besonders interessant finde ich, wenn verschiedene Therapieansätze miteinander kombiniert werden. Zum Beispiel gibt es Verfahren wie die Schematherapie, die Elemente aus verschiedenen traditionellen Schulen vereint, und bei der auch Therapeuten aus unterschiedlichen Richtungen Übereinstimmung finden können. Ich finde es aber auch großartig, wenn Musik oder Sport in die Psychotherapie integriert werden, und nicht nur der Musiktherapeut mit Trommeln arbeitet, sondern auch wir als psychologische Therapeuten solche Elemente einfließen lassen. Das erfordert Mut und Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, aber wir haben eine fundierte Ausbildung und viel Erfahrung – da sollten wir uns auch trauen, neue Wege zu wagen. In der Klinik ist zudem durch das multiprofessionelle Team ein individueller und flexibler Ansatz oft gut möglich.

Warum fällt es vielen Menschen schwer, Hilfe zu suchen, und wie kann man diese Barriere abbauen?
Es fällt vielen schwer, Hilfe zu suchen, weil sie Angst vor dem haben, was dann passiert. Diese Ängste können ganz unterschiedlich sein. Manche fürchten sich vor Stigmatisierung, davor, dass jemand sie in der Psychotherapiepraxis sieht oder ihr Auto regelmäßig vor deren Tür stehen sieht. Für andere sind die realen Hürden entscheidend: Sie befürchten, keine Hilfe zu bekommen oder dass die Hilfe, die sie erhalten, nicht wirksam ist. Es gibt auch Menschen, die Angst haben, sich schwierigen Gefühlen und Themen zu stellen, die sie bislang im Alltag erfolgreich vermieden haben. Diese Ängste lassen sich oft durch offene Kommunikation über psychische Erkrankungen und Therapie abbauen. Wenn wir offener darüber sprechen, wird es für Menschen leichter, sich Hilfe zu suchen und die Unsicherheit zu überwinden.

Was können Angehörige tun, wenn sie merken, dass jemand leidet, sich aber nicht helfen lassen möchte? Natürlich kann man überlegen, warum es der betroffenen Person so schwerfällt, Hilfe anzunehmen. Darauf kann man unterschiedlich reagieren – zum Beispiel, indem man ermutigt, Adressen heraussucht oder klar signalisiert: „Ich stehe hinter dir, wenn du dir Unterstützung holst.“ Letztendlich muss die Entscheidung jedoch von der Person selbst kommen.
Wenn sie trotz aller Hilfsangebote keine Unterstützung annehmen möchte, ist es für Angehörige besonders wichtig, gut auf sich selbst zu achten. Denn die psychische Erkrankung eines nahestehenden Menschen kann das eigene Leben stark belasten – das liegt leider oft in der Natur der Sache.
Es gibt jedoch einige gute Anlaufstellen, um sich auszutauschen und Unterstützung zu finden. Ein Beispiel ist der Trialog im Mehrgenerationenhaus, wo Betroffene, Angehörige und Menschen aus dem Hilfesystem zusammenkommen. Dort werden Erfahrungen und und nicht selten Erfolgsgeschichten geteilt. Auch unsere Klinik bietet Angehörigentreffen an. Ich würde in einer solchen Situation zudem eine professionelle Beratung in Anspruch nehmen – dafür muss man nicht zwingend zu einem Therapeuten gehen. Eine Beratungsstelle, der Trialog oder der sozialpsychiatrische Dienst können hilfreiche Anlaufstellen sein. Ich kann wirklich nur empfehlen, sich dort Unterstützung zu holen. So kann man die eigene Situation individuell besprechen und das Gefühl bekommen: „Mir wird in meiner Not auch geholfen.“

Wie beeinflussen soziale Medien die psychische Gesundheit?
Ich denke, dass es viele positive Seiten hat, dass in sozialen Medien zunehmend über psychische Erkrankungen gesprochen wird und diese entstigmatisiert werden. Viele Comedians zum Beispiel, die offen über ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen sprechen, leisten hier einen wertvollen Beitrag. Das wäre ohne soziale Medien wahrscheinlich nicht in dieser Form sichtbar. Auf der anderen Seite bieten soziale Medien auch eine ungefilterte Plattform, was manchmal auch zu Desinformation führt und Verunsicherung hervorruft. Ich habe den Eindruck, dass vor allem jüngere Menschen oft mit Social-Media-basierten Diagnosen zu uns kommen. Die treten in Wellen auf, sind dann irgendwie „en vogue“ und bieten in dem Moment eine salonfähige Erklärung für eigene Probleme. Ob die Diagnose passt und die entsprechend Behandlung hilfreich wäre, steht aber auf einem anderen Blatt. Einerseits ist es gut, dass psychische Themen sichtbar werden und Menschen anfangen, über sich nachzudenken. Andererseits ist es für junge Menschen, die sich noch in der Identitätsfindung befinden, schwierig, denn eine psychische Erkrankung sollte nicht mit der eigenen Identität verwechselt werden. Sie ist keine „Rolle“, die man übernimmt, und ersetzt weder ein angemessenes, gesundes Selbstbild noch einen Beruf oder andere wichtige Aspekte des Erwachsenenlebens. Ich halte es außerdem für sehr kritisch, dass soziale Medien oft zu verzerrten Vergleichen führen. Man sieht ständig, wie toll es anderen angeblich geht und wie perfekt ihr Leben ist – dabei wird selten gezeigt, dass auch mal ein Tag schlecht oder einfach ereignislos war. Für das eigene Selbstwertgefühl und die persönliche Positionierung im Leben ist das oft sehr ungünstig.

Wie beeinflusst die evolutionäre Entwicklung unseres Gehirns unsere Fähigkeit, mit der schnellen und komplexen digitalen Welt umzugehen?
Unser Gehirn hat sich über Jahrtausende nur sehr langsam entwickelt. Auch heute noch reagieren wir bei Angst genau wie vor 5000 Jahren: Wir schütten Adrenalin aus, unser Puls steigt, die Muskeln spannen sich an, und die Verdauung wird gedrosselt, um für Flucht oder Kampf gerüstet zu sein. Doch in unserer modernen Welt ist Flucht nicht immer eine Option. Bei einem Bewerbungsgespräch oder einer Führerscheinprüfung reagiert unser Körper genauso, als ob wir vor einem Säbelzahntiger fliehen müssten. Diese alte Reaktion auf moderne Herausforderungen ist ein Problem, das sich auch auf den Umgang mit der digitalen Welt auswirkt. Die digitale Welt ist schnell und komplex, und wir müssen ständig mit neuen Informationen und Anforderungen umgehen – das kostet viel Energie und Ressourcen, die uns nur begrenzt zur Verfügung stehen. Es fällt uns zudem oft schwer, den Wert von Informationen zu schätzen, weil wir sie so schnell und in so großer Menge erhalten. Früher war es ein besonderer Moment, wenn wir ein schönes Bild gesehen oder ein tolles Lied gehört haben, heute haben wir auf Knopfdruck tausende davon. Auch beim Aufwachsen spielt das eine Rolle. Sicher könnte das ein Entwicklungspsychologe noch deutlich besser untermauern, das ist nicht mein Fachgebiet. Aber ich sehe es so: Als Kinder haben wir eine Kassette hundertmal gehört und konnten es fast auswendig. Heute haben Kinder bereits oft sehr früh Zugriff auf unzählige Folgen von Hörspielen oder Musik, ohne dass sie diese wirklich vertieft verarbeiten. Diese schnelle Verfügbarkeit von immer neuem Input kann den Wert der Dinge mindern, die uns früher glücklich gemacht haben. Besonders bei Kindern, deren Gehirn sich in der Entwicklung befindet, ist Wiederholung wichtig, um etwas wirklich zu verarbeiten. Doch in einer Welt, die ständig neuen Input liefert, stellt sich die Frage, wie viel Neues tatsächlich förderlich für die Entwicklung ist.

Welches Vorurteil über psychische Erkrankungen würden Sie am liebsten für immer aus der Welt schaffen?
Es gibt sehr viele verschiedene Vorurteile. Etwa, dass Therapie nur Reden ist und nichts bringt. Oder das Vorurteil, dass man eine psychische Erkrankung einmal hat und nie wieder loswird. Oder Aussagen wie: „Wenn sich alle mal ein bisschen zusammenreißen würden und die jungen Leute mal mehr arbeiten gehen würden, dann wäre das alles gar nicht so schlimm.“ Das sind alles sehr vereinfachte und verallgemeinernde Sichtweisen, die der Komplexität psychischer Erkrankungen und ihrer Therapie nicht gerecht werden. Leider wird zudem die Psychiatrie in Filmen immer noch oft als Horror-Szenario dargestellt, was viele Menschen verängstigt und falsche Vorstellungen verbreitet. Dieses Vorurteil wird zum Glück immer weniger verbreitet, aber ich finde es immer noch erschreckend, wie viel Angst es manchen Menschen macht. Auch hier können wir mit Offenheit und Gespräch viele Vorurteile nach und nach ausräumen.

Wie wünschen Sie sich, dass unsere Gesellschaft in zehn Jahren mit psychischer Gesundheit umgeht?
Ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft dann offener und integrativer mit psychischer Gesundheit umgeht. Heute ist es richtig, dass psychische Erkrankungen als Krankheit anerkannt werden, aber oft wird der Krankheitsstatus in einem Schwarz-Weiß-Denken gesehen: Entweder man ist krank und kann nichts tun, oder man ist gesund und es geht alles wieder. Ich hoffe, dass in zehn Jahren diese Sichtweise nicht mehr so dominant ist. Zum Beispiel wünsche ich mir, dass jemand sagen kann: „Ich mache eine ambulante Psychotherapie, aber meine Therapeutin kann immer nur mittwochs morgens“, und dass dann ein Chef sagt: „Toll, dass Sie sich darum kümmern! Sie können mittwochs zwei Stunden später kommen und dafür dienstags und donnerstags länger arbeiten.“ In großen Unternehmen gibt es solche Modelle schon, aber auf dem Land ist es oft noch nicht der Fall. Durch Aufklärung und eine bessere Integration psychischer Gesundheit in den Alltag und in den Arbeitskontext könnten wir viel erreichen. Eine solche Offenheit würde helfen, den Druck zu nehmen und die Akzeptanz zu steigern.

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