Maria Steinert, Leiterin der Ergotherapie in den GFO Kliniken Südwestfalen, erklärt, wie Therapie Menschen helfen kann, Selbstständigkeit, Teilhabe und Lebensqualität zurückzugewinnen
Ob nach einer schweren Erkrankung, bei psychischen Belastungen oder körperlichen Einschränkungen – Ergotherapie setzt genau dort an, wo der Alltag schwerfällt. Psychiatrie und Geriatrie sind die beiden Schwerpunkte, in denen Maria Steinert und ihr Team in den GFO Kliniken Südwestfalen arbeiten, um Klient:innen individuell zu unterstützen und ihnen neue Perspektiven zu eröffnen. Im Interview gibt sie Einblick in ihre Arbeit, räumt mit gängigen Vorurteilen auf und zeigt, warum kleine Fortschritte oft der größte Erfolg sind. Darüber hinaus spricht sie über den kreativen Umgang mit Hürden, die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit und warum Ergotherapie in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt – auch wenn sie oft noch übersehen wird.
Was ist das Erste, das Sie sagen, wenn jemand fragt, was macht man eigentlich in der Ergotherapie?
Steinert: In der Ergotherapie unterstützen wir Menschen dabei, in ihrem Alltag handlungsfähig zu sein oder wieder zu werden. Egal, ob es um die Selbstversorgung, Arbeit oder soziale Teilhabe geht. Unser Ziel ist immer, die individuelle Selbstständigkeit zu fördern und die Menschen wieder zu befähigen, aktiv und selbstbestimmt an ihrem Leben teilzunehmen.
Welcher Irrglaube über Ergotherapie begegnet Ihnen am häufigsten?
Steinert: Der häufigste Irrglaube ist, dass Ergotherapie nur aus Basteln oder Beschäftigung besteht. Das stimmt so natürlich nicht, denn hinter jeder Handlung steckt immer ein therapeutisches Ziel: zum Beispiel die Förderung von Konzentration, Antrieb, Selbstständigkeit, Beweglichkeit oder sozialer Interaktion. Unsere Arbeit ist immer alltagsbezogen und individuell, sie orientiert sich an den Bedürfnissen der Klient:innen. Je nach Fachbereich kann sich das natürlich in den Schwerpunkten oder den Methoden, die eingesetzt werden, unterscheiden. Das macht die Ergotherapie sehr so vielseitig.
Wenn Ergotherapie ein Bild wäre, wie sähe es aus?
Steinert: Ich finde, Ergotherapie lässt sich nicht ganz so leicht in einem Bild darstellen oder festhalten, weil das Fachgebiet nun mal sehr vielseitig ist. Vielleicht könnte von einem Bild in Bewegung sprechen, das Menschen in ihrem Alltag zeigt, also beim Tun oder auch beim Ausprobieren, beim Wiederentdecken von Fähigkeiten. Dieses Bild würde zeigen, wie Menschen durch Selbstständigkeit, Orientierung und soziale Teilhabe wieder aktiv am Leben teilnehmen.
Was bedeutet für Sie Handlungsfähigkeit im Alltag und warum ist sie so zentral in Ihrer Arbeit?
Steinert: Für mich bedeutet Handlungsfähigkeit im Alltag, dass ein Mensch in der Lage ist, sein tägliches Leben wieder aktiv und möglichst selbstständig zu gestalten. Sei es beim Anziehen oder Einkaufen, Kochen, der Arbeit oder auch bei sozialen Kontakten. Genau da setzen wir als Ergotherapeut:innen an. Wenn diese Fähigkeiten durch psychische, kognitive oder auch körperliche Einschränkungen beeinträchtigt sind, unterstützen wir gezielt dabei, genau das zu erhalten oder wiederzuerlangen. Und unsere zentrale Aufgabe ist es, Menschen zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt und mit bestmöglicher Lebensqualität zu führen. Genau darin liegt die Bedeutung und der Wert in(?) unserer Arbeit.
Wie gelingt es Ihnen auch kleinen Fortschritten große Bedeutung zu geben?
Steinert: In der Ergotherapie sind kleine Fortschritte der Schlüssel zur langfristigen Veränderung. Zum Beispiel, ein erster selbstständiger Handgriff, eine strukturierte Tagesaufgabe oder eine überstandene schwierige Alltagssituation. All das sind Erfolge, die wir bewusst wahrnehmen, benennen und mit den Klient:innen reflektieren. Weil gerade diese kleinen Fortschritte für die Betroffenen sehr schwer zu erkennen sind. Deshalb ist es uns wichtig, diese Schritte sichtbar zu machen und deutlich zu zeigen, wie viel Kraft und Energie darin steckt. Gerade diese kleinen Erfolge geben Mut und Motivation, weiterzumachen und nicht aufzugeben.
Wie kreativ darf oder muss man in der Ergotherapie sein?
Steinert: Für Therapeut:innen ist Kreativität in der Ergotherapie vor allem dann wichtig, wenn es um Flexibilität, lösungsorientiertem Denken und die Fähigkeit geht, sich spontan auf unterschiedliche Situationen einzustellen. Es geht darum, individuelle Wege zu finden für den Umgang mit Alltagshürden, für therapeutische Zugänge oder für motivierende Angebote. Das kann bedeuten, eine Aktivität oder auch ein Therapieziel für die Klient:innen so zu verändern, dass es wirklich machbar und alltagsnah wird, mit dem Ziel, Teilhabe wieder zu ermöglichen. Dafür braucht es Offenheit, anpassungsfähiges Denken und die Bereitschaft, sich auf unterschiedliche Lebenssituationen und die Menschen dahinter einzulassen.
Die Klient:innen müssen nicht kreativ sein, damit Ergotherapie wirkt. Gerade in kreativen Angeboten geht es nicht darum, ein Kunstwerk zu schaffen. Es geht vielmehr um Ausdruck, Struktur, Tun und Erleben. Wer von sich selbst sagt, nicht kreativ zu sein, wird bei uns angeleitet. Die Klient:innen werden ermutigt, sich auszuprobieren und sich auch mal Dinge zuzutrauen, die sie sich vorher vielleicht nicht zugetraut hätten. Am Ende entsteht immer etwas, das wertvoll für die eigene Entwicklung ist. Das setzen wir dann in Bezug zu den individuellen Zielen.
Wie werden die Klient:innen im psychiatrischen Setting angeleitet?
Steinert: In erster Linie unterstütze ich Klient:innen dabei, ihre eigenen Bedürfnisse und Ziele zu benennen. Wenn ihnen das schwerfällt, helfe ich ihnen mit gezielten Fragen, um eigene Wege oder Lösungen zu entwickeln. Gerade zu Beginn kann die Entscheidung, welche Aufgabe passend ist, für sie sehr herausfordernd sein. In solchen Fällen übernehme ich zunächst die Auswahl einer kleinen, überschaubaren Aufgabe, um den Einstieg zu erleichtern. Mit der Zeit gewinnen die Klient*innen zunehmend mehr Vertrauen und Selbstständigkeit, sodass sie immer mehr eigene Entscheidungen treffen und aktiv mitwirken.
Wie sieht der typische Ablauf einer Therapie bei Ihnen aus oder ist jeder Tag anders?
Steinert: Der Schwerpunkt meiner täglichen Arbeit liegt im psychiatrischen Setting, in dem der Tagesablauf durch feste Therapiepläne strukturiert wird. Das gibt den Klient:innen Halt und Orientierung. Innerhalb dieses Rahmens bieten wir unterschiedliche Gruppen- und Einzeltherapien an, die jeweils unterschiedliche Inhalte und Schwerpunkte setzen. Trotz dieser festen Rahmenbedingungen ist jeder Tag anders, weil wir flexibel auf die individuellen Bedürfnisse, Ressourcen und die Tagesform der Menschen eingehen.
Wie erleben Sie die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Krankenhaus?
Steinert: Die enge Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen, wie mit Ärzt:innen, Pflege, Physiotherapeut:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und anderen Berufsgruppen, ist ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit und essenziell. Im multiprofessionellen Team entwickeln wir gemeinsam ein ganzheitliches Bild der Klient:innen, auf dessen Grundlage wir individuelle Therapieziele festlegen können.
Gibt es Bereiche in denen Ergotherapie Ihrer Meinung nach stärker eingesetzt werden sollte aber noch zu wenig Beachtung findet?
Steinert: Ja, es gibt aus meiner Sicht durchaus Bereiche, in denen Ergotherapie noch stärker eingesetzt werden könnte. Zum Beispiel in der Prävention oder in der Frührehabilitation nach schweren Erkrankungen. Aber auch im Bereich der psychiatrischen Erkrankungen könnte ein verstärkter Einsatz hilfreich sein, um Menschen im Alltag zu stabilisieren und möglicherweise Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Natürlich spielen dabei viele verschiedene Faktoren eine Rolle, aber aus therapeutischer Sicht sehe ich hier Potenzial.
Was hat Sie ursprünglich zur Ergotherapie gebracht?
Steinert: Für mich war schon immer klar, dass ich mit Menschen arbeiten möchte. An der Ergotherapie schätze ich die Vielfalt und die Mischung aus kreativen, motorischen und sozialen Aspekten. Das macht den Beruf für mich besonders abwechslungsreich und sehr erfüllend.
Welche Rolle kann Ergotherapie bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen spielen? Zum Beispiel Alterung, Long Covid, psychische Erkrankungen.
Steinert: Meiner Meinung nach spielen wir als Ergotherapeut:innen eine zentrale Rolle bei gesellschaftlichen Herausforderungen, weil wir wirklich genau da ansetzen, wo Menschen im Alltag eingeschränkt sind. Mit alltagsnahen, ressourcenorientierten Ansätzen fördern wir die Selbstständigkeit und Teilhabe und tragen so zur Stabilisierung und der Lebensqualität bei.
Was wünschen Sie sich von Politik und Öffentlichkeit für Ihren Beruf?
Steinert: Definitiv eine höhere Sichtbarkeit und ein besseres Verständnis dafür, wie zentral wir als Ergotherapeut:innen für den Erhalt von Selbstständigkeit und Lebensqualität sind. Unser Beruf ist sehr vielseitig, leider arbeiten wir häufig noch im Verborgenen und werden in unserer Bedeutung für Gesundheit und Teilhabe oft unterschätzt.
Wenn Sie Ihre Arbeit in drei Worten beschreiben müssten, welche wären das?
Steinert: Ganzheitlich, alltagsnah und handlungsorientiert. Aber für mich ist natürlich klar, dass sich die ergotherapeutische Arbeit nicht nur in nur drei Worten beschreiben lässt. Dafür ist diese zu vielfältig und komplex. Aber ich glaube, dass diese drei Worte ganz gut auf den Punkt bringen, worum es im Kern geht. Dass wir den Menschen in seiner Gesamtheit sehen, seinen Alltag in den Mittelpunkt stellen und dabei zielgerichtet an konkreten Handlungen arbeiten.